Ich habe vier Kinder. Wir lernen zu Hause. Und auch wenn das manchmal chaotisch, wild und laut ist, ist es auch ein Ort, an dem ich jeden Tag staune. Denn ich sehe Dinge, die man in einem normalen Schulalltag oft übersehen würde. Zum Beispiel, wie Kinder lernen, bevor sie es zeigen können. Wie viel in ihnen geschieht, lange bevor sie es in Worte fassen können.
Besonders deutlich wurde mir das bei meinem Sohn. Er wurde als Baby am Herzen operiert und war danach zwei Tage auf der Intensivstation – das hat Spuren hinterlassen und teilweise auch seine Entwicklung verzögert, insbesondere seinen Zugang zur Sprache: Sprechen, Lesen, Schreiben – all das kam bei ihm langsamer als „normal“. Aber gleichzeitig habe ich gesehen: Da war so viel Verständnis und Neugier da. Und er fand auch Wege, wie er ohne Lesen etwas über Themen, die ihn interessierten, lernen konnte: Hörspiele von Was ist Was, Willi wills wissen, Trumpfkarten und andere Bilderkarten „lesen“, ohne die Buchstaben zu lesen.
Er konnte Dinge logisch zuordnen, Muster erkennen, Zusammenhänge begreifen – er konnte sich beim Spiel Challengers! praktisch alle Effekte merken, ohne lesen zu können. Er hat die Welt beobachtet, durchdacht, innerlich geordnet. Die Sprache war teilweise einfach noch nicht bereit, mitzuhalten. Es gab keine Worte für all die vielen Gedanken, die er sich machte. Er war – und ist – immer noch ein Traumdenker.
Natürlich habe ich ihn nicht einfach treiben lassen. Ich habe ihm immer wieder gesagt, wie wichtig es ist, dass er Lesen und Schreiben kann. Ja, natürlich habe ich mir auch immer wieder Sorgen und Gedanken gemacht, ob es richtig ist, dem Prozess zu vertrauen – und wie ich ihm das Lesen und Schreiben näherbringen könnte. Ich habe ihm vorgelesen, mit ihm geübt, ihn ermutigt. Ich habe ihn angestupst – aber nie gedrängt. Wenn ich spürte, dass zu viel Widerstand da war, habe ich es gelassen. Ich wollte nicht, dass er das Vertrauen in sich selbst verliert. Und ich wollte, dass er fühlt: Ich glaube an ihn – und unsere Beziehung darf lebendig und unbeschwert bleiben.
Zuerst wusste ich nicht, dass seine Verzögerung einen Zusammenhang mit der Operation haben könnte. Für mich war es einfach so, dass ich gemerkt habe: Er ist offen. Er will die Welt entdecken. Und er ist auch kreativ im Wege finden. Für mich war es sichtbar und fühlbar, dass hier etwas wächst, sich entwickelt. Ich habe Achtung vor diesem Prozess empfunden – und wollte ihn nicht stören, sondern einfach begleiten und unterstützen.
Dann kam der Moment, an dem etwas aufging. Eine Freundin empfahl mir das Silbenlesen – ein System, bei dem Kinder Wörter nicht als Ganzes erfassen müssen, sondern Schritt für Schritt Silben lesen lernen. Und plötzlich konnte er lesen. Es war, als ob sich in seinem Inneren etwas verbunden hätte, das schon lange vorbereitet war. Plötzlich begann er zu lesen. Wörter zu behalten. Sätze zu verstehen. Nicht, weil ich ihn gepusht habe – sondern weil der richtige Moment gekommen war. Und weil das richtige Werkzeug da war.
Ich begreife jetzt: Mein Sohn wollte zuerst zuhören und Dinge selbst begreifen, bevor er darüber reden konnte. Und der Wortschatz, den er sich beim Zuhören aufgebaut hat, hilft ihm heute beim Lesen.
Lernen beginnt nicht mit einem Arbeitsblatt. Es beginnt mit Vertrauen. Mit einem Kind, das ernst genommen wird – auch wenn es noch keine Worte hat für das, was es längst versteht.